Die Hemden der Chinesen

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Keine europäische Macht hat so kurz Kolonien besessen wie Deutschland. Erst 1884 wurde man Kolonialmacht, bevor mit dem Ausgang des[ds_preview] 1. Weltkriegs alle überseeischen Besitzungen wieder verloren gingen.

Mit dem Erwerb der Kolonien stand auch die Frage von Linienverbindungen mit Raum. Mehr noch: Das Deutsche Reich strebte generell den Anschluss an überseeische Wachstumsmärkte an. Dazu gehörten eigene Postdienste. Bereits 1871 war die »Deutsche Dampfschiffahrtsrhederei«, später bekannt als »Kingsin-Linie«, in das Ostasien-Geschäft eingestiegen. 1882 begann die Reederei Woermann einen Liniendienst nach Westafrika. Als der Reichstag drei Jahre später die Subventionierung einer deutschen Schifffahrtslinie nach Ostasien und Australien beschloss, ging die Afrikafahrt leer aus. Erst 1890 beschloss man die staatliche Unterstützung für eine Linie an den Osten des Kontinents. Den Zuschlag für die 900.000 Reichsmark jährlich erhielt die eigens dafür gegründete »Deutsche Ost-Afrika-Linie« (D.O.A.L) aus Hamburg. Sie musste – wie alle subventionierten Reedereien – bestimmte Schiffsgrößen und Fahrtfrequenzen garantieren.

Unter den Schiffen, die den deutschen Seeverkehr zu den Kolonien und weit über sie hinaus sicherten, nahmen die Reichspostdampfer eine besondere Stellung ein. Im Besitz privater Reedereien, dienten sie nicht nur dem allgemeinen Frachtverkehr auf den Weltmeeren, sondern übernahmen auch mit finanzieller Unterstützung des Staates die weltweite Beförderung von Briefen und Paketen. In den Genuss der Subventionen kamen der Norddeutsche Lloyd (NDL) aus Bremen, die D.O.A.L. und die HAPAG aus Hamburg. Bei der D.O.A.L. erhielten die Reichspostdampfer teilweise die Namen staatlicher Organe und Ämter wie »Bundesrath«, »Kanzler« und »Bürgermeister«.

Als am 12. März 1912 im Reichstag über die Förderung der deutschen Schifffahrt debattiert wurde, hielt der deutschkonservative Abgeordnete Karl von Böhlendorff-Kölpin eine lang Rede, in der er auf die große wirtschaftliche Bedeutung Chinas für die Zukunft hinwies: »Eine derartige enorm starke Bevölkerung findet man in der ganzen Welt nicht wieder wie in China. Was für einen enormen Bedarf und Konsum gibt das, was für eine weite, neue Welt für die Entwicklung unseres Handels. Die Industrie, die ja in China noch ganz außerordentlich schwach vorhanden ist, wird sich bald mächtig entwickeln.« Der Zentrums-Abgeordnete Matthias Erzberger pflichtete ihm in patriotischer Gesinnung bei: »Was er hier angeregt hat, ist absolut wichtig im Interesse der Zukunft unseres Volkes.« Große Chancen sah er für die Lieferung deutscher Bekleidungswaren nach China und verweist auf eine Denkschrift des deutschen Kolonialamtes: »Wenn jeder Chinese sein Hemd auch nur um einen Zoll länger machen lässt, dann (wird) die ganze vorderindische Produktion an Baumwolle aufgebraucht.«

Man ist heute geneigt, die Mini-Kolonie Kiautschou in ihrer Bedeutung gegenüber den deutschen Besitzungen in Afrika zu vernachlässigen. Tatsächlich war sie eine enorm wichtige Kolonie als Sprungbrett für die handelsmäßige Durchdringung Chinas. Ihr Vorteil: Die Hauptstadt Tsingtao, heute Qingdao, verfügte über einen Naturhafen, in dem der Frachtverkehr vor dem 1. Weltkrieg stark wuchs. Heute plant China, ihn zum größten Hafen der Welt zu machen.

Kaum zu glauben: Eines der Schiffe, die für die Kolonien gebaut wurden, ist immer noch in Dienst, an gleicher Stelle wie vor über 100 Jahren. Es ist die heutige »Liemba«, vormals als »Goetzen« für den Passagier- und Frachtverkehr auf dem Tanganjika-See gebaut.Wulf Brocke

Internationales Maritimes

Museum Hamburg


Wulf Brocke